Latent gestresst, unruhig, angespannt - warum es fast jedem so geht und welche Rolle unser Nervensystem dabei spielt
- Eva Simons
- 25. Nov. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Wenn wir akuten oder dauerhaften Stress in Form von belastenden Ereignissen oder Phasen erfahren, wird in unserem Körper Spannung aufgebaut, weil unser Nervensystem die Situation erstmal als potentiell lebensbedrohlich einstuft und auf Alarm schaltet.
Wenn wir keine Gelegenheit bekommen, diese Spannung zu entladen, bleibt sie in unserem Körper gebunden und zeigt sich in innerer Unruhe, Unwohlsein, Ungeduld, einer kurzen Zündschnur, körperlichen Beschwerden usw. - in einem unangenehmen Gefühl individueller Form.
Unser Nervensystem hat sich mit unserer Evolution nicht wirklich verändert. Wir haben uns kulturell und intellektuell enorm weiterentwickelt, aber der Körper funktioniert immer noch so wie beim Steinzeitmenschen oder Affen. Das bedeutet, unser Nervensystem kann nicht einordnen, was im heutigen modernen Leben wirklich eine Lebensgefahr darstellt und was nicht. Es "weiß" so gesehen nicht, dass zum Beispiel ignoriert oder ausgelacht werden, Meinungsverschiedenheiten haben oder eine Delle ins Auto gefahren zu haben keine direkte Lebensbedrohung darstellen - unser System stellt lediglich fest, dass wir auf solche Situationen oftmals mit Scham, Wut oder Angst reagieren. Diese Reaktionen entstehen deshalb, weil wir solche Situationen als Versagen unsererseits oder Angriff auf uns bewerten und unseren sozialen Status bedroht sehen. Das wiederum hat mit den individuellen emotionalen Verletzungen/Traumata zu tun, die wir alle erlebt haben. Hätten wir keine emotionalen Verletzungen erlebt, würden wir auf "Kleinigkeiten" nicht mit diesen Gefühlen reagieren und nur dann Angst haben oder wütend sein, wenn es wirklich Sinn macht, wenn wir ernsthaft kämpfen oder fliehen müssen.
Wir haben aber alle gelernt, dass Fehler nicht sein dürfen, dass wir weniger oder keine Liebe bekommen, wenn wir uns nicht verhalten wie gewünscht - im Endeffekt also, dass wir uns anpassen und in unserer Rolle bleiben müssen, die uns bisher gut durchs Leben gebracht hat. Wird diese Rolle durch irgendetwas gefährdet, bekommen wir Angst und unser Körper deutet das Gefühl als Hinweis auf eine Gefahr.
(Zum Thema Rollen kommt nochmal ein separater Beitrag - Retter/Opfer/Täter Dreieck).
Ausgegrenzt und abgelehnt werden ist für unser Stammhirn - den ältesten Teil unseres Gehirns - neben körperlichen Verletzungen und fehlender Nahrung - die allergrößte Angst, vor der wir uns permanent versuchen zu bewahren. Denn unser Körper ist schlau und weiß, dass wir Rudeltiere und aufeinander angewiesen sind. Alleine kann der Mensch normalerweise nicht überleben. Heutzutage stimmt das nur noch indirekt - wir können theoretisch auch ohne Freunde/Familie leben - allerdings brauchen wir andere Menschen um Geld zu verdienen und welche, bei denen wir einkaufen gehen können. Praktisch will niemand wirklich so leben. Rein biologisch ist in unseren Zellen aber immer noch abgespeichert, dass wir auf gar keinen Fall aus dem Dorf vertrieben werden wollen weil es den Tod bedeutet - daher tun wir ganz unbewusst alles, was möglich ist um das zu verhindern. Wir wollen gemocht oder gebraucht werden, meistens beides. Es gibt natürlich auch die einsamen Wölfe unter uns, die genau das Gegenteil erlebt und abgespeichert haben: Menschen kann man nicht vertrauen, also bin ich alleine am sichersten. (Auch dazu folgt mal ein separater Beitrag).
Jeder findet also seine eigenen Überlebensstrategien, oftmals sind diese auch gelernt und bei Vorbildern abgeschaut worden.
Wenn das Nervensystem nun als Folge auf die Scham- Angst- und Wutgefühle auf Alarm geht, werden Stresshormone ausgeschüttet und Kräfte mobilisiert, um sich gegen die vermeintliche Gefahr zu wappnen. Der Puls geht schneller, die Muskeln spannen sich an, der Atem wird beschleunigt. Da wir dies alles in der Schule nicht gelernt haben und nicht einschätzen können, was da passiert, verstärkt es meist noch das Gefühl von Unwohlsein, weswegen wir die auslösenden Situationen so gut es geht vermeiden und in die Verdrängung gehen.
Was dadurch aber passiert, ist dass wir der Spannung keine Möglichkeit geben, sich zu entladen.
Wir bilden einen Panzer und halten die Spannung in uns ungewollt fest, sie begleitet uns egal wohin wir gehen und brodelt in uns vor sich hin. Es mag Orte, vereinzelte Menschen oder Hilfsmittel wie Alkohol o.ä. geben, die uns kurzzeitig entspannen und durchatmen lassen. Doch sind wir wieder alleine oder in unserem stressigen Alltag, kommt die Anspannung zurück.
Man kann es sich vorstellen wie ein Ball, der aufgepumpt werden muss um zu funktionieren - der hart und stark sein muss, damit er schneller und gezielter geworfen oder geschossen werden kann. Gleichzeitig wird so der innere Kern gegen die Tritte von außen geschützt.
In diesem Zustand ist der Druck in dem Ball jedoch permanent hoch, es ist als würde man ständig die Luft anhalten müssen. Alles in einem wird enger und härter, je länger dieser hohe Druck bestehen bleibt.
Um in einen Zustand von Ruhe zu kommen, müssen wir diesen Druck, diese Spannung immer wieder entladen. Ansonsten laufen wir mit einem Panzer durch die Gegend und stumpfen immer mehr ab. Zufriedenheit kann nicht lange anhalten, eine latente innere Unruhe stellt sich ein, Entspannung funktioniert vielleicht nur wirklich gut mit Hilfe von Alkohol oder Ähnlichem und wir tun uns schwer, tiefe Gefühle für unsere Mitmenschen zu empfinden - und erst recht nicht für uns selbst.
Wir haben uns heute Lebensumstände kreiert, in denen permanent verglichen und bewertet wird, in denen sich angepasst werden muss, um dazu zu gehören oder „etwas zu sein“ und mithalten zu können.
Das ist verdammt anstrengend und wir fühlen uns nicht wirklich gemocht für das was wir wirklich sind, sondern nur für das, was wir nach außen zeigen. Daher ist es so schwer, diese Muster abzulegen.
Bei jeder Kritik, jeder Ablehnung, jedem noch so kleinen Konflikt baut sich also permanenter Druck auf, der keine Chance bekommt, zu entweichen. Weil man sich als Erwachsener nicht traut zu schreien obwohl alles in einem schreien will, weil man sich keine Pause gönnt obwohl sich alles nach Ruhe sehnt, weil es sich nicht schickt, nein zu sagen wenn irgendwas von einem erwartet wird.
Der Witz ist, dass wir uns alle anpassen an etwas, von dem wir glauben dass es besser ist als wir selbst. Dabei geht es jedem so, und es würde unheimliche Erleichterung schaffen, wenn wir alle weniger denken und mehr fühlen würden, was unser Körper gerade braucht und es ihm so gut geben, wie wir können. Und mehr Verständnis dafür hätten, dass jeder ist wie er/sie ist.
Was sich dann einstellt ist eine Loyalität uns selbst gegenüber, eine Sicherheit und Ruhe die in uns spürbar ist und sich auch auf unser Umfeld auswirkt. Denn Spannung in uns erzeugt auch Spannung in den Menschen um uns herum. Stimmung überträgt sich, deswegen ist es ja auch so schwer in unserer Welt, zu entspannen - alle stehen unter Strom. Es braucht nicht nur Orte, in denen wir kurzzeitig zur Ruhe kommen können (Wellness, Wald, Kneipe), es braucht Übung darin, wie wir selbst zu diesem Ort werden können.
Das ist es, was mit körperorientierter und traumasensibler Arbeit passiert. Wir üben, wie sich das Nervensystem erholen kann. Von dem Stress der war und von dem, der aktuell ist - ohne dass wir die Verletzungen, die dazu geführt haben, anschauen müssen. Je nach dem wie hoch der Druck ist, dauert es vielleicht etwas länger, aber jeder kann zu dem gleichen Ergebnis kommen.
Wenn du dich schon mal so richtig wohl in dir gefühlt hast, richtig sicher und frei von dem, was andere über dich denken, dann war das keine Ausnahme, sondern dein natürlicher Zustand. Er ist nur meistens überlagert mit dem Stress, den dein System nicht los wird.
Innere Ruhe, Gelassenheit und Lebendigkeit - das ist der eigentliche Normalzustand. Genau DA wollen wir hin und langfristig bleiben. Und zwar ohne Alkohol oder andere Hilfsmittel. Es ist möglich und reine Übungssache.
Natürlich wird es immer Herausforderungen im Leben geben. Aber wenn man dieses beschriebene Gefühl von innerer Ruhe und Freiheit als Basis etabliert hat, können auch große Herausforderungen gut bewältigt werden und wirken sehr viel leichter.
Wenn du zu dir stehen kannst in deinen „schwächsten“ und tiefsten Momenten und dich nicht ablenkst und verdrängst, hast du eine unendliche Ressource aus der du immer schöpfen kannst, egal was passiert. Ein echtes Selbstbewusstsein, was von innen kommt. Und genau das ist der Zustand, in dem du dein Leben frei gestalten kannst, die Verbindungen eingehen kannst die du dir wünschst. In dem du innerlich zur Ruhe kommst und gleichzeitig lebendig frei wirst das zu tun, was du tun möchtest.
Und am Ende wist Du dafür nicht einmal ausgegrenzt, sondern viel mehr gemocht als vorher.
Weil Menschen gerne in deiner Nähe sind, wenn du innerlich entspannt bist. Weil du Klarheit bekommst über das was du wirklich willst. Und die Kraft, dem nachzugehen.
Das Ganze darf jetzt nur noch dein Nervensystem verstehen lernen :-)
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